Entfremdete Kinder – betrogen um ihr Leben ?

Petra hat ihren Papa erst kurz nach ihrem 12. Lebensjahr kennengelernt

„Ich kann mich nicht erinnern, ihn mal umarmt zu haben oder ihm gesagt zu haben, dass ich ihn lieb habe.“

2022-02-18

„Im Nachhinein betrachtet, hätte ich meinen Vater gern – also frei von Vorurteilen – selbst kennengelernt als den liebenswürdigen Menschen, der er wirklich war. Möglicherweise hätte ich dann mehr Zeit mit ihm verbracht, ihn öfter mal gedrückt und ihm gesagt, wie lieb ich ihn habe.“ Foto: Aus Privatbesitz. Layout: Birgit Sommerschmied.

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Weiler. ARCHEVIVA führt ein Interview mit Petra (Pseudonym), einer erwachsenen Frau, die von ihrem Vater nach der Scheidung ihrer Eltern entfremdet wurde.

Petra, du hast mir auf Facebook – eher eigentlich nebenbei – berichtet, du seist ein Scheidungskind. Da mein Spezialgebiet Eltern-Kind-Entfremdung ist, interessiert mich natürlich insbesondere die Beziehung von Kindern zu Eltern oder zu einem Elternteil, den sie erst in späten Jahren kennenlernen durften.

Wann hat denn für dich die Trennung von einem Elternteil begonnen ?

Die Trennung von meinem Vater begann mit der Scheidung meiner Eltern. Daran kann ich mich aber nicht erinnern, da ich erst 1 1/2 Jahre alt war.

Was war der Grund für die Trennung deiner Eltern ?

Der Grund für die Trennung meiner Eltern war wahrscheinlich hauptsächlich politisch begründet. Mein Vater war Mitglied der Evangelischen Kirche und gläubiger Christ. Meine Mutter war Mitglied der SED und nicht gläubig.

Zudem hatte sie (selbst auch Einzelkind) zu ihrer Mutter eine intensivere Bindung als zu meinem Vater, ihrem Ehemann. Meine Eltern waren nur ca. zwei Jahre verheiratet. Ich selbst kann mich aufgrund des damaligen Alters nicht an die Trennung meiner Eltern erinnern, aber im Scheidungsurteil hieß es, dass sie aufgrund der unterschiedlichen Lebensmodelle keinen gemeinsamen Weg finden konnten und die Ehe deshalb als zerrüttet anzusehen sei.

Hast du denn Fotos von deinem Vater gezeigt bekommen oder kannst du dich daran erinnern, dass du dich nach ihm erkundigt hast ? Und wie wurde von Seiten deiner Mutter und der dich mit erziehenden Verwandten, Freunde und Bekannten mit dem Thema „Vater“ umgegangen ?

Wenn ich mich richtig erinnere, wurden mir keine Fotos von meinem Vater gezeigt. Kurz vor dem ersten Treffen (einige Zeit nach meinem 12. Geburtstag) war ich gespannt darauf, wie mein Papa aussieht. Ich kann mich nicht erinnern, in den ersten ca. zehn Lebensjahren nach meinem Vater gefragt zu haben. Da ich zum Zeitpunkt der Trennung meiner Eltern noch so klein war, kannte ich Familie nicht anders und so war es für mich „normal“, dass nur die Mutter und die Großeltern als Bezugspersonen da waren. Meine erste bewusste Erinnerung an meinen Vater ist, dass er mir per Post zum 10. Geburtstag „zu meiner ersten Null“ gratuliert hat und mir eine Halskette mit einer Uhr als Anhänger geschenkt hat.

Wenn über meinen Vater gesprochen wurde, was gefühlt eher selten der Fall war, dann war ausschließlich von Situationen die Rede, in denen er sich unbeholfen oder dumm verhalten hat. Gelegentlich wurde mir gesagt: „Jetzt guckst du wie dein Vater.“ Heute weiß ich, dass ich ihm sehr ähnlich sehe.

Was hat es denn in dir gemacht, wenn in dieser Weise über dich und deinen Vater gesprochen wurde ?

Mit der Aussage, ich würde gucken wie mein Vater, konnte ich nichts anfangen, da ich nicht wusste, wie mein Vater guckt. Wenn aus früheren Begebenheiten von ihm gesprochen wurde, habe ich das nicht hinterfragt, sondern kommentarlos hingenommen, da er mir fremd war und ich eine sehr intensive Bindung an meine Mutter hatte. Ich gehe davon aus, dass es in meinem Unterbewusstsein die Einstellung ihm gegenüber manipuliert hat.

Hatten denn deine Freunde im Kindergartenalter oder deine Schulfreunde keinen Vater, der mit ihnen spielte, sie in der Schule abholte, mit ihnen etwas unternommen hat ? Bist du nie darauf angesprochen worden, keinen Vater zu haben ?

Da ich nicht sehr selbstbewusst und auch nie besonders „cool“ war, habe ich in meiner Kindheit nur schwer Anschluss an Gleichaltrige gefunden. Erst in der 9. Klasse wurde ich von drei, vier Mädchen meiner Klasse als Freundin akzeptiert. Diese hatten Väter, die aber selten in Erscheinung getreten sind.

Ich kann mich nicht daran erinnern, ob mich mal jemand nach meinem Vater gefragt hat. Möglicherweise im Kindergarten, da ist meine Erinnerung mittlerweile sehr verblasst. Meine Mutter war sehr liebevoll bemüht, mich keinen Mangel spüren zu lassen. Was ich verpasst habe, ist mir erst später aufgefallen, z. B. als ich während meiner Ausbildungszeit im Zug ein kleines Mädchen mit ihrem Vater gesehen habe, während sich die beiden liebevoll unterhalten und etwas herum gekaspert haben.

Was ist es denn, was du verpasst hast, dadurch, dass du deinen Vater nicht bei dir gehabt hast ?

Zuerst einmal habe ich es verpasst, meinen Vater frei von Vorurteilen und vorgefertigten Meinungen selbst kennenzulernen und mir selbst ein Bild zu machen, wie er wirklich ist. Wie viel öfter hätten wir uns sehen können, wie viele Worte sind unausgesprochen geblieben. Ich hätte seine Ansichten besser kennenlernen können. Gelegentlich hätten wir auch einfach mal albern sein können. Vor allem aber wäre ich mit 16 Jahren nach dem Krebstod meiner Mutter nicht zu entfernten Verwandten gezogen, sondern hätte in meinem Vater eine vertraute Bezugsperson gehabt, was mir wahrscheinlich mehr Halt gegeben hätte. Da aufgrund eines Verkehrsunfalles leider auch mein Vater sehr früh verstorben ist, war uns nicht viel gemeinsame Zeit vergönnt und ich kann mich nicht erinnern, ihn mal umarmt zu haben oder ihm gesagt zu haben, dass ich ihn lieb habe. Das tut im Nachhinein sehr weh.

Kann man das Versäumte irgendwie nachholen im Leben ?

Die entscheidenden Prägephasen waren vorbei, als wieder eine Kontaktaufnahme erlaubt war und ich meinen Vater sehen durfte. Bei vielen wichtigen Ereignissen im Leben durfte mein Vater nicht dabei sein, nicht miterleben, wie ich mich entwickelt habe. Durch Vorurteile meinerseits waren Hürden vorhanden, die nicht komplett zu überwinden waren. Deshalb ziehe ich für mich das Fazit, dass man zwar versuchen kann, so viel wie möglich nachzuholen, aber die vergangenen Jahre sind unwiederbringlich verloren.

Hättest du die Möglichkeit, was würdest du an welcher Stelle deines Lebens ändern ? Wo würdest du die Weiche anders stellen, damit du zu deinem Ziel kommen würdest ?

Im Nachhinein betrachtet, hätte ich meinen Vater gern – also frei von Vorurteilen – selbst kennengelernt als den liebenswürdigen Menschen, der er wirklich war. Möglicherweise hätte ich dann mehr Zeit mit ihm verbracht, ihn öfter mal gedrückt und ihm gesagt, wie lieb ich ihn habe. Nach dem Tod meiner Mutter wäre ich zu meinem Vater gezogen, was mir (und wahrscheinlich auch ihm) einiges Leid erspart hätte.

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Petra wünschen wir alles Liebe für ihr Leben und einen guten Partner an ihrer Seite, der ihr auch den Halt geben kann, den sie von ihrem Vater hätte haben können und aufgrund von Entfremdung nicht erhalten hat.

Lesen Sie demnächst Interviews über nicht vorhandene Beziehungen zwischen Vater und Kind aus der Reihe „Kuckuckskinder“.

Mit uns in die Zukunft.