Blut dicker als Wasser

… und wenn es so wäre ?

Eine nichtjuristische Auswertung in Familiensachen

Dr. Jorge Guerra González

2016-12-23

Lüneburg. Es ist noch nicht so lange her, dass „Die Zeit“ über eine Frau berichtete, die erst im  Erwachsenenalter von ihrer Mutter erfährt, dass ihr biologischer Vater ein anderer Mann ist, als der, den sie „Papa“ nennt.

Sie lernt diesen Mann kennen und ist zunächst über die physische Ähnlichkeit erstaunt. Beide beschließen, sich heimlich häufiger zu treffen. Die Frau erzählt, dass sie schon immer gewusst habe, dass in ihrem Leben etwas nicht stimme. Nach dem Treffen habe alles allmählich einen Sinn bekommen, nun lebe sie intensiver und entspannter. Sie habe sich ihren Namen ändern lassen und den Namen ihres leiblichen Vaters angenommen, sie habe nun die aus ihrer Sicht wahre Identität entdeckt. Als erwachsene Frau schreibt sie ein erfolgreiches Buch darüber, wie sehr sie die Wahrnehmung des Vaters gesucht hat, wie sehr er ihr gefehlt hat. Dies hat ihr Selbstbewusstsein und Selbstbild erschüttert, denn er wollte nichts mit ihr zu tun haben, da er bereits verheiratet war und eine Familie hatte. Dies deckt sich mit der Erfahrung einer jungen Betroffenen, die dem Vater vorwirft, nur als Zahlvater für sie dagewesen zu sein. Trotzdem habe sie sich nach ihm gesehnt und sich gesagt: „Er ist mein Papa“.

Die Pflegemutter mache einen „tollen Job“

Ein Kollege sagte mir neulich zu einem gemeinsamen Fall, er glaube nicht, dass Blut dicker als Wasser sei. Aus Gründen, die er nannte, würde er den Umgang einer Mutter mit ihrem Kind ganz ausschließen und damit keine Probleme haben. Die Pflegemutter mache einen tollen Job, was ich ebenfalls bestätigen konnte. Trotzdem wirkte das Kind für mich zerbrechlich, irgendwie traurig.

Eltern sollen ihre „Kindeswohldienlichkeit“ unter Beweis stellen

Eine Richterin meinte im Zusammenhang mit einem anderen Fall, dass leibliche Verwandtschaft ihr nichts bedeute. Alles solle dem Kindeswohl untergeordnet werden. Erst dann, wenn die Eltern beweisen könnten, dass ihr Umgang kindeswohldienlich sei, dürften sie Recht über ihre Kinder erwerben.

Langfristige seelische Schäden bei Verzicht auf die leiblichen Eltern

So wie im Leben geht es in Familiensachen insbesondere um Aspekte, welche für die Augen und die Vernunft bei einer objektivierbaren, operationalisierbaren naturwissenschaftlich rationalen und wiederholbaren Vorgehensweise „unverständlich“ gar „unsichtbar“ sind.  Emotionen wie Liebe, Herzlichkeit, Großzügigkeit etc., oder insbesondere Angst, Unsicherheit, Stolz, Rachsucht, usw. sind Motive, die Eltern im familiären Konflikt zu uns, d.h. zu den professionellen Helfern, treiben. Und wir, die Fachleute, können auch nur emotional darauf agieren. Frei davon können wir nicht sein. Und doch sind uns Emotionen sehr unmittelbar bewusst. Was aber, wenn es noch etwas gäbe, das noch weniger offensichtlich ist, was aber trotzdem wirksam in Sachen Familien sein kann. Die Blutverwandtschaft bspw. Prinz/Gresser berichten von den langfristigen seelischen Schäden bei Kindern, die – vor allem auf Grund gerichtlicher Beschlüsse – auf ihre leiblichen Eltern verzichten mussten, zu denen idealerweise eine starke Bindung aufgebaut wurde².

Depressionen, Drogenkonsum, (Auto-)Aggressivität nach Bindungsabbruch

Es liege an der Natur der Sache, dass der Abbruch von Beziehungen, die sich aus der biologischen Verwandtschaft und/oder den zwischen Eltern und Kindern aufgebauten Bindungen, verantwortlich für die bei diesen Kindern vermehrt auftretenden Schäden wie Depressionen, Unsicherheiten, Neigungen zum Drogenkonsum, (Auto-) Aggressivität, etc. sei. Da die Relevanz der Bindung der Kinder zu ihren Bezugspersonen bekannt ist, wird sie hier nicht weiter vertieft. Schwierig ist ledlich die Anpassung dieser Erkenntnis aus der Psychologie in rechtlichen Kategorien – so die Suche nach einer für das hiesige Recht notwendige Hauptbezugsperson für die Kinder, die dann ihre Betreuung vorrangig übernehmen soll. In der Konstellation werden alle anderen Bezugspersonen rechtlich als nachranging betrachtet. Das Recht gewinnt Allgemeingültigkeit dadurch, dass es die Realität (stark) vereinfachen muss.

Eine einzige falsche Entscheidung kann reichen, um Schaden anzurichten

Die Rolle der leiblichen Verwandtschaft scheint heutzutage dennoch unterschätzt zu sein – auch wenn das Recht diese Einstellung zumindest grammatische und historische Auslegung nicht vermuten lässt: laut dem Grundgesetz (Art. 6 II GG) wäre sie, die einzige, die zählt; so ist sie die wichtigste auch für das BGB3. Anayo v Germany, und neulich der BGH Beschluss XII ZB 280/15 behalten diese Verwandtschaft doch in Blick, aus welchen Grund auch immer. Warum denn aber nur? Kinder wirken aufgewühlt, wenn sie nach einer Weile einen Elternteil wieder sehen. Leibliche Eltern werden vermisst, auch wenn sie nie präsent im Leben ihrer Kinder waren. Kinder werden krank, wenn ihnen die Eltern fehlen, mit denen sie aufgewachsen sind. Es sind nicht wenige Anzeichen. Somit ergibt sich für uns die Frage, inwiefern wir diese Anzeichen wahrhaben und uns an ihnen orientieren wollen. Eine einzige falsche Entscheidung kann reichen, um Schaden bei den Kindern anzurichten, die uns anvertraut sind, und dann hätten wir genau das Gegenteil von dem bewirkt, was wir eigentlich erreichen wollten und als unsere Aufgabe ansehen.

Menschen, von denen wir abstammen, können für unsere Seele nicht wie Ersatzteile durch andere Menschen ausgetauscht werden

Sicherlich lässt sich schwer konkretisieren und objektivieren oder gar quantifizieren, welchen Stellenwert die Blutsverwandtschaft für das Wohl des Kindes hat. Es sieht aber wohl doch so aus, als ob man dieses Kriterium nicht ignorieren kann, nur weil wir meinen, dass wir es auf den ersten Blick nicht „verstehen“ können. Die Absicht dieses kurzen Aufsatzes ist lediglich, auf diesen Aspekt aufmerksam zu machen. Es ist doch offensichtlich so, dass Menschen, von denen wir abstammen, für unsere Seele nicht wie Ersatzteile durch andere Menschen ausgetauscht werden können. Bei der Trennung von Kindern von ihrer leiblichen Familie oder von einzelnen Familienmitgliedern müsste dieser Aspekt auf die Waage einer Kindeswohlentscheidung kommen. Umso mehr, wenn die Frage im Raum steht, ob der Kontakt des Kindes mit dieser Bezugsperson abrupt unterbrochen werden muss. Der Schaden für die Seele des Kindes, für die Entwicklung seiner Persönlichkeit, kann erheblich sein und zwar selbst dann, wenn wir diesen Schaden ebenfalls nicht unmittelbar „sehen“ können. Und er wäre auch nicht einfach wieder gut zu machen.

Willkür vorbeugen nicht nur durch rationale, messbare oder objektivierbare Kriterien

Sicherlich müssen unsere Entscheidungen als Professionelle in Familiensachen nachvollziehbar sein – bspw. Um der Gefahr einer Willkür vorzubeugen. Das kann oder muss aber nicht heißen, dass nur rationale, messbare oder objektivierbare Kriterien den Schlüssel dieser Entscheidungen liefern können. Sonst könnte es sein, dass wir am Kern der Sache vorbei entscheiden würden, wenn wir uns nur auf das „Sichtbare“ beschränken würden. Die Plausibilität der Argumentation – und nicht deren „Sichtbarkeit“ – dürfte in den Fällen als Entscheidungsgrundlage reichen.

Bindung zu den eigenen Kindern pflegen und zum jeweils anderen Elternteil

Diese Aspekte sollten dann direkt und indirekt in unseren Entscheidungen und Stellungnahmen Erwähnung finden. Auch wenn sie dadurch komplexer werden, scheint dies von Bedeutung und im Sinne der Kinder zu sein, die das Familienrechtssystem beschützen möchte. Aber nicht nur die Fachleute sollen diese Erkenntnis verinnerlichen und berücksichtigen. Sie sollte auch bei den leiblichen Eltern für ein erhöhtes Verantwortungsbewusstsein sorgen, denn deren Kinder brauchen ihre „Erzeuger“ auf eine Art und Weise, die wir nicht richtig erfassen oder begründen können. Deswegen sollen sie umsichtig mit ihrem Nachwuchs umgehen, und nach Möglichkeit nicht nur die eigene Bindung zu den Kindern pflegen, sondern auch deren Bindung zum jeweils anderen Elternteils nicht nur zulassen, sondern sogar fördern.

Epigenetik: Traumatische Trennungserfahrungen könnten sich in das Erbgut einprägen

Schließlich muss es erwähnt werden, dass das Wesentliche für die Augen vielleicht nicht für immer ganz unsichtbar bleiben wird. Die Epigenetik befasst sich unter anderem damit, wie sich Erfahrungen in das Erbgut einprägen und somit an die weitere Generationen weiter gegeben werden, bspw. traumatische Erfahrungen. Dies würde nicht zuletzt die in der Fachliteratur festgestellten Zusammenhänge erklären, dass Familienstreit, Depression, etc. überproportional generationsübergreifende Wirkungen zu haben scheinen. Zumindest wurde das Phänomen beobachtet, dass Scheidungskinder vermehrt dazu neigen, selber Scheidungskinder zu  produzieren; Kinder aus zerstörten Familien werden wahrscheinlicher dieses Ergebnis als Erwachsene auch hervorrufen. Denkbar ist somit, dass der Schaden an die Kinder – z.B. weil sie auf ihre leiblichen Eltern verzichten mussten, – sich ebenfalls in ihr Erbgut einprägen könnten, was dann für die nächste Generation weiter gegeben wird. Nicht das dicke Blut aus der Verwandschaft, wäre dadurch sichbar, aber vielleicht der Schaden, wenn man nicht darauf achtet. Immerhin, die Epigenetik ist eine neue Wissenschaft, und auf weitere Erkenntnisse können wir gespannt sein.

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² Prinz A, Gresser U (2015), Macht Kontaktabbruch zu den leiblichen Eltern Kinder krank? Eine Analyse wissenschaftlicher Literatur, NZFam 21/2015 vom 06.11.2015, 2: 989-995

³Im Grunde ist die leibliche Elternschaft diejenige, die der BGB-Gesetzgeber im dem Sinne hatte (s. §§ 1626, 1684 I, 1680 II, etc.) bzw. er legt ausdrücklich Wert darauf (§ 1686a BGB).