Interview mit einer innerlich heimatlos Gewordenen
2014-11-06
Söllingen. Vor 14 Tagen genau hielt ich in Söllingen mein Auto an, um Dachdeckerarbeiten an einem Anwesen in der Hauptstraße zu beobachten. Bei meiner Annäherung kam ein kleines Häuschen hinter einem großen Lastwagen zum Vorschein, das sich als markantes kleines Dorfgebäude entpuppte. Ich zog meinen Fotoapparat heraus und nachdem ich zwei, drei Bilder geschossen hatte, nahm ich eine ältere Dame wahr, die mein Tun bemerkt hatte und auf mich zukam.
„Wird hier umgedeckt ?“, fragte ich die interessierte Beobachterin, nahm aber sehr schnell wahr, dass die 80jährige Frau aufgeregt war. Betroffen sagte sie: „Stellen Sie sich vor, mein Elternhaus wird abgerissen.“
Ich schaute mich um und sah auf den ersten Blick nichts Marodes oder Baufälliges, wie ich es von anderen Gebäuden in Ortschaften kannte, wenn der Abrissbagger oder die Abrissbirne aktiv wurden.
Die Frau war aufgeregt, fassungslos über das, was hier geschah und sprühte heraus: „Das gibt es doch nicht. Wir sind ja gar nicht informiert worden.“
Das Haus war verkauft worden, an wen wusste die Dame nicht. Wegen des Torbogens, der zum gewölbten Keller führte, habe sie bereits beim ehrenamtlichen Ortsvorsteher, tätig im Heimatverein, angerufen. Dieser sagte, er habe vom Abbruch gehört und würde dort vorbeifahren. Danach wurde das Rathaus von der rührigen Dame informiert, weil es sich beim Abriss um ein historisches Gebäude der Gemeinde Söllingen, gelegen am östlichen Rande von Karlsruhe, handelte.
Für die Gemeinde sollte von dem Bau noch etwas erhalten bleiben, meinte die Frau immer noch erschüttert, denn die Steine waren vom ortsnahen Steinbruch vom Großvater mit seinen eigenen Händen herausgeschlagen worden, mit den Pferden in den Ortsetter gefahren. Handarbeit durch und durch. Im eigenen Schweiß erbaut. Ein Stück Heimat.
Hinter dem Anwesen sei früher eine Ziegelei gewesen. Dort sei eine Lore gefahren. Hinter dem Garten des Anwesens die zwölf Meter hohe Lehmwand, so erinnert sich die Ortsansässige, dort war reingebohrt worden. Der Vater und der Nachbar miteinander und sie als Kinder hätten Bohrungen vorgenommen, damit sie alle Schutz hätten vor den Bombenangriffen, so erzählt die wache Frau Drews. „Wir brauchten diesen Schutz dann nicht mehr, weil die Franzosen kamen. Aber im gewölbten Keller waren wir alle über den Krieg. Wir waren zwischen 30 und 40 Leute da drin. Und jetzt ist der gewölbte Keller weg.“
Frau Drews schüttelt fast ungläubig den Kopf. „Da waren Kartoffeln drin, Mostfässer und alles, was wir aufbewahren konnten. Ein altes Bett stand drin. Darin schliefen wir zu sechst. Das Eingemachte, die Vorratskammer, die Nachbarn und viele Kinder. Wir haben damals alle zusammengehalten. Wenn der Alarm losging, rief der Vater: ‚Schnell, kommt alle!‘ Der Keller bot uns Schutz.“
Bei meinem heutigen Besuch erinnert sich die Frau ganz genau: „Der gewölbte Keller war immer kühl, im Winter war er gleichmäßig warm, die Luftfeuchtigkeit war konstant. Wir konnten dort alles aufbewahren, brauchten keinen Kühlschrank. Der Keller war unsere Vorratskammer, unser Schutz.
Mittendrin hing ein Holzgestell, auf dem die selbstgebackenen Brote aufbewahrt worden waren. Gebacken wurden sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite in der Bäckerei. Den Teig knetete die Mutter. Und nach deren Tod knetete ich den Teig für fünf Laib. Oder auch sechs Laib Brot.
Für mich ist dieser Abbriss ein ganz tiefer Schmerz, ein Abschiednehmen, ein Verlieren. Ein Wissen um Vergänglichkeit ist auch da. Das Schmerzvolle ist ein Stück Endgültigkeit, weil diese Keller nicht mehr gebaut werden können. Damit ist das gesamte Wissen um die Baukunst einer umweltverträglichen Vorratskammer zu Grabe geschüttet worden.
Ein Teil Kultur ist aus dem Herzen von Söllingen herausgerissen worden.“, erläutert die früher als Gymnasiallehrerin tätige Seniorin.
Hätte die Gemeinde in Ihren Augen früher reagieren müssen – besonders in Anbetracht, dass durch den Abriss solch fachlich vollendeter Bauwerke wie Gewölbekeller robuste, umweltverträgliche, nachhaltig und ressourcenschonende Aspekte einer perfekten Bauweise verloren gingen ?
„Ich hätte mich gefreut, wenn man meine Intervention ernster genommen hätte. Der Gemeinde musste der Abbruch ja bekannt gewesen sein. Die Gemeinde hat gar nicht reagiert. Wenn ich nicht zufällig runter gekommen wäre, wäre der Torbogen weg gewesen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sich die Gemeinde darum gekümmert hatte.
Heute weiß ich, dass ein Architekt dieses Gelände gekauft hat. Dort soll ein Sechs-Familienhaus entstehen mit Tiefgaragen. Es ist ja klar, dass da der Gewölbekeller stört. In mir entsteht eine furchtbare Fremdheit, für mich ist das nicht mehr der Ort, in dem ich aufgewachsen bin. Meine gefühlsmäßige Heimat ist mir genommen worden.“
Warum durfte das Haus denn überhaupt abgerissen werden ?
„Das weiß ich nicht. Hinterher kann man sagen, es war alles kaputt.“
Ich selbst bin jetzt dreimal an dem Gelände vorbeigegangen und habe weder marode noch nasse Teile in dem Abbruchschutt gefunden.
„Nach Rücksprache mit dem Architekten durfte ich mir einige Steine holen, die jetzt im Garten liegen und für ein Mäuerchen aufgesetzt wurden. Wenn ich jetzt die Steine anschaue, ist Freude und Dankbarkeit in mir, dass ich sie noch erhalten konnte. Es ist ein Widerspruch damit drin, denn auf der anderen Seite steht die Trauer um das Verlorene und Unwiederbringbare.
Das Haus ist entweder 1794 oder 1804 erbaut worden. Das Haus war in vierter Generation der Schmied am Ort. Heinrich, Wilhelm und Adolf Armbruster waren die Vorfahren, die allesamt Schmied waren. Das Haus war also ein zentraler Punkt des Ortes. Zwischen uns und dem Nachbarhaus stand ein großer Nussbaum, eine Dorfidylle, es war schön, wir Kinder konnten dort unendlich spielen.
Vorne war die Schmiede und hinten dann zwei gewölbte Keller, obendrüber eine riesengroße Scheune, worin Stroh und Heu und Futter für die Tiere gelagert worden waren. Unten waren die Ställe für fünf Kühe, zwei Pferde, im anderen Stall zwei bis drei Schweine, während des Krieges Ziegen und Hühner im Garten. Wir mussten uns ja selbst versorgen. Und da haben alle mitgeholfen. Wir mussten alle mitarbeiten, auch wir Kinder. Denn der Vater kam schwerstkrank vom Krieg nach Hause.
Das alles ist nun weg. Und damit ein Stück Geschichte.
Von der Gemeinde hätte ich erwartet, dass die Gemeinde hier vorsichtiger vorgegangen wäre. Man hätte vielleicht einen Weg finden können die Historie mit dem Bedarf zu verbinden. Aber dies ist nicht geschehen. Es musste die vollkommene Zerstörung eines gewachsenen Teiles des Ortskernes sein.
Was wäre denn das Mindeste, das die Gemeinde jetzt noch tun könnte ?
„Nichts mehr. Vielleicht könnte die Gemeinde ja an den nun entstehenden Neubau ein Schild anbringen lassen: Hier stand die letzte Dorfschmiede. Abgerissen 2014.
Es wird schon eine Zeit brauchen, bis ich mich an diese Lücke gewöhnt habe. Ich weiß um die Vergänglichkeit, dass wir nichts mitnehmen können, aber es ist ja so, dass auch die Menschen, die in Söllingen wohnen, dass denen dieses geschichtsträchtige Haus genommen worden ist.“
Einige Steine hat Frau Drews nach Absprache mit dem Architekten und neuen Bauherrn in Sicherheit bringen können.
Diese lagern jetzt im Garten der Söllingerin und sind ehrfürchtig zu einem Mäuerchen aufgeschichtet. Liebevoll geht sie davor auf die Knie und beschaut die Steine.
Ein Stück ist gerettet. Ein Stück. Der Schmerz wird noch eine Weile brauchen, bis er geheilt ist.