Landgericht Gießen verhandelt erneut: Autoritätenclash ? Dr. Christidis setzt sich gegen die Behauptungen von Dr. Lamertz zur Wehr

Das Geschäft mit dem Kindeswohl: Grundlage des Verdienstes sind psychologische Gutachten

Rechtsanwalt Müller knallt mit aller Härte gegen Poschners wiederkäuende Anschuldigungen

2020-06-05
aktualisiert 2024-01-17

Richterin am Landgericht Kassel. Hat die heftig auffahrenden Anwälte im Griff. Bleibt konzentriert. Foto: Heiderose Manthey.

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Gießen/Keltern. Am 03.06.2020 wurde vor dem 5. Senat des Landgerichts Gießen die Klage gegen die Hamburger Psychologin Dr. Christina Lamertz verhandelt (Az. 3 O 223/19). Sie hatte ihre Gießener Kollegin Dr. Andrea Christidis mindestens zweimal bei der Staatsanwaltschaft Gießen angezeigt und sie beschuldigt, sie würde ihre Berufsbezeichnung unberechtigt in betrügerischer Weise und Absicht führen; in Wirklichkeit habe Christidis niemals ein Studium – geschweige denn in Psychologie – abgeschlossen.

Was angesichts der leichten Überprüfungsmöglichkeiten wie eine Lappalie anmutete, hat inzwischen eine mehr denn zehnjährige Vorgeschichte. Christidis hatte mehrere Ermittlungsverfahren und Strafprozesse durchstehen müssen. Nach einem ersten Freispruch vor dem Gießener Amtsgericht am 12.10.2016 war die Staatsanwaltschaft in Berufung gegangen. Der letztinstanzliche Freispruch des Landgerichts Gießen datiert vom Oktober 2017; er wurde nach Einlegung und Rücknahme der Revision am 12.01.2018 rechtskräftig. Doch auch danach hörten die Strafanzeigen nicht auf, denn inzwischen hatte der Prozessbevollmächtigte von Lamertz, Rechtsanwalt Karl-Ludwig Poschner, auch selbst Christidis angezeigt und laut Angaben andere dazu ermutigt, Gleiches zu tun. Bei einer Akteneinsicht entdeckte Christidis 61 (in Worten.: einundsechzig !) solcher teils eingestellter, teils ruhender Ermittlungsverfahren. Der Trend hatte in den letzten Jahren auch die Verwaltung des Landkreises Gießen zu eigenen Strafanträgen und überregional den Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP) zu eigenen Schmutzkampagnen ähnlichen Inhalts inspiriert. Christidis brauchte Jahre, bis sie sich zu wehren begann, weil sie die Vorwürfe für so lächerlich erachtete, dass sie nie davon ausgegangen ist, die Staatsanwaltschaft könnte die absurden Anschuldigungen ernst nehmen. Inzwischen laufen 21 solcher Klagen von Dr. Christidis gegen Falschdenunzianten.

Der Hintergrund

Nach vergleichbaren Fällen wird man lange suchen müssen: Wer bemüht sich schon zu beweisen, dass eine Ärztin, ein Architekt, eine Anwaltskanzlei keine entsprechenden Studienabschlüsse vorzuweisen haben. Der Grund für den Einsatz von Zehntausenden von Arbeitsstunden öffentlicher wie privater Bediensteter zur Leugnung einer schnell überprüfbaren Trivialität lässt sich kaum erraten, wenn man ihn nicht kennt:

Christidis hatte Ende der Nuller Jahre als parteilose Kreistagsabgeordnete in der Fraktion der Linken erlebt und missbilligt, dass kommunale Kinderheime privatisiert wurden. Neben dem Gewinnstreben (bei monatlichen Unterbringungskosten von z.T. über 12.000 €) bemängelte sie, dass die Qualifikation der Entscheider über Kinderschicksale gezielt niedrig angesetzt war. Ihre Kritik sorgte für Ärger, nicht nur bei jenen, die mit der Privatisierung ihr Kapital vermehrten, sondern auch bei solchen, die als Angehörige von Betreuungsberufen und Kinderheimen ein Abgeordnetenmandat innehatten. Offen sagten Kreistagsabgeordnete anderer Fraktionen öffentlich und ihr ins Gesicht, dass sie nicht vorhatten, Politik gegen die Pläne ihrer Arbeitgeber zu machen.

Der wirkliche Kampf: Schwache Familien gegen Lobbyismus

Zur selben Zeit wandten sich an Christidis Familien, deren Kinder von den zuständigen Jugendämtern in Obhut genommen worden waren. Über Jahre stellte sie ein einheitliches Muster fest: Vor allem Familien, von denen anzunehmen war, dass sie sich nicht wehren könnten (aus Mangel an Geld, Bildung, Mut, Zeit, Glauben an den Rechtsstaat o.A.), wurden Kinder entzogen, nachdem Gutachten mit erfundenen Misshandlungen oder Diagnosen über psychische Leiden der Eltern verfasst wurden; damit wurde vor Gericht die Notwendigkeit der Maßnahme dokumentiert. In Familien mächtiger Clans, politisch Radikaler u.Ä. schien es dagegen nie Probleme mit dem Kindeswohl zu geben.

Was Christidis nach und nach enthüllte, nennt sie heute offen staatlich geförderten Kinderhandel. Allein im Jahr 2016 wurde nach diesem Schema bundesweit eine unbekannte Anzahl von Kindern aus mehr denn 84.000 Familien entfernt. (Je Familie wurde dabei mindestens ein Kind „in Obhut“ genommen.) Christidis kennt nach eigenen Angaben mehr als 1.000 solcher Fälle. In einigen hundert von ihnen prüfte sie die (fingierten) Gutachten nach fachlichen Kriterien, holte die bewusst ausgelassenen Tests mit den Betroffenen nach und wies nach, dass es hierbei nicht um das vielgepriesene Kindeswohl, sondern um viele Win-Win-Geschäfte (Interview aus dem Europäischen Parlament in Brüssel mit Dr. Andrea Christidis, damals Jacob) gegangen war: Sachverständige erstellten für ein paar zehntausend Euro Gutachten, mit denen privatisierte Heime ihre Betten belegten oder kinderlose Pflegefamilien mit Kindern versorgt wurden. Die Rechnungen der Gutachter und der Heime wurden den ausgeguckten Familien zur Begleichung vorgelegt.

Das Geschäft mit dem Kindeswohl: Grundlage des Verdienstes sind psychologische Gutachten

Das eigentliche Business lief aber erst danach: Wie Christidis mindestens in Mittelhessen nachwies, wurden (und werden) Kinder unter der Obhut des Jugendamts mit Medikamenten (z.B. Psychopharmaka) „behandelt“ – eine Dienstleistung, die von der Pharmalobby bis zur Zulassung jedes Medikaments mit vielen Millionen „gefördert“ wird. Vor allem Kinder, deren Wohl als gefährdet beurteilt wurde, müssen „zur Ruhe kommen“, „ihren Schlaf kriegen“, „vom Über- oder Untergewicht wegkommen“. Auf der Grundlage psychologischer Gutachten bekommen Jugendämter die Zuständigkeit für die Gesundheitsfürsorge dieser Kinder.

In einem solchen Fall stieß Christidis 2009 auf ihre Kollegin Lamertz, die als psychologische Gutachterin für die zwangsweise Verbringung eines Kindes in ein Heim plädiert hatte. Christidis konnte unschwer nachweisen, dass das vorgelegte Elaborat über die (Nicht-)Eignung der damals betroffenen Eltern keinerlei wissenschaftlichen Anspruch erfüllte. Das „in Obhut“ genommene Kind sollte seiner Familie zurückgegeben werden.

Denunziation als Mittel zum Vertuschen des eigenen mangelnden Sachverstandes ?

Die Sachlage und die fachlichen Zusammenhänge waren klar, das Geschäft drohte zu platzen. Doch Lamertz und ihr Anwalt Poschner fanden einen Ausweg: Sie behaupteten, unabhängig davon, ob Christidis recht habe, sei sie nicht qualifiziert, um ihren Sachverstand zu vertreten.

Hintergrund war, dass Christidis kurz vor ihrem Abschluss in Gießen an eine indische Universität gewechselt hatte. Der internationale Rang war dort der gleiche wie der in Gießen, die Studiensprache war die gleiche wie jene ihrer Studienliteratur (Englisch), die Inhalte waren identisch – nur besser mit ihrer gleichzeitigen Berufstätigkeit zu kombinieren. Denn in Indien war schon kurz nach der Jahrtausendwende eingeführt worden, was in Europa fast zwei Jahrzehnte später durch Corona bekannt wurde: das digitalisierte Studium, das durch die Zeitverschiebung für Europäer zum digitalen Nachtstudium wurde.

Lamertz und ihr findiger Anwalt ersannen Straftaten und Betrügereien, die Christidis zum Erwerb ihres Abschlusses angestellt haben soll: Sie habe nie studiert – oder keine Psychologie – oder an einer nicht existenten Uni – oder die Urkunden gekauft – oder die Urkunden erst gekauft, dann auch noch gefälscht – oder Urkunden irgendwie erworben, die ihr dann aber aberkannt wurden u.v.m. waren die Begründungen für immer neue Strafanträge. Poschner betrachtete es als seine Mission, zu den Anzeigen seiner Mandantin eigene hinzuzufügen und sich über jede Einstellung von Ermittlungen zu beschweren. Mit geringer Verzögerung zogen die von Christidis kritisierten Jugendämter nach.

Kassel ist klar, entschieden und souverän, ruft zur gütlichen Einigung auf

Bevor Abschnitte dieser Vorgeschichte am 03.06.2020 Revue passierten, eröffnete Richterin am Landgericht Gießen Frau Kassel das Verfahren mit einer kleinen Sensation, die bei ihr nicht mehr ins Gewicht fällt: Auf Antrag des Anwalts von Christidis, Manfred Müller, erlaubte sie die digitale Tonaufzeichnung des Prozesses, wie sie das erstmalig am 13.11.2019 getan hatte. Ihre Bedingung, dass Datenspeicher im Besitz des Gerichts verbleiben müssen, mag in anderen Ländern wie ein Angriff auf demokratische Grundsätze anmuten; in Deutschland ist es aber revolutionär ! Denn es sind inzwischen eine ganze Reihe von Prozessen bekannt, deren Protokolle (durch Behörden und Zeugen belegt) weder mit der Realität, noch mit dem im Gerichtssaal Besprochenen übereinstimmen. Menschen, die sich dadurch benachteiligt sehen, werden abgewiesen: Die Bänder mit den Diktaten werden nach Verschriftlichung der Protokolle überschrieben, Anträge auf Protokollberichtigung laufen ins Leere.

Richterin am Landgericht Kassel stellte schon zu Beginn des Prozesses klar, dass die Frage nach der Gültigkeit akademischer Titel nicht etwa beim Gericht, sondern unwidersprochen bei der Kultusministerkonferenz (KMK) liegt; von dort hatte Christidis die Anerkennung aller ihrer Titel schon vor Jahren erhalten. Die Richterin versucht mehrfach die Parteien zur Einigung

Angesichts ihrer Erfahrung im Bereich des Strafrechts, dass fähige psychologische Gutachter rar sind, brachte Kassel während der einstündigen Verhandlung zweimal ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass Arbeitsstunden und Aktenberge eher zur Erstellung nützlicher Gutachten als zur gegenseitigen Beschuldigung von Sachverständigen aufgewendet werden sollten. Zur Auseinandersetzung mit diesem Gedanken hatte sie das Erscheinen beider Parteien angeordnet; nun stellte sie zu ihrem Bedauern fest, dass Lamertz nicht gekommen war.

Poschner weiß es besser: Nicht nur das Landgericht Gießen, auch die KMK soll falsch entschieden haben !

Aber deren Rechtsanwalt Poschner erklärte, dass die Kulturministerkonferenz (KMK) bei der Anerkennung der akademischen Titel von Christidis falsch entschieden hatte. Deswegen hätte es auch für Christidis keinen Freispruch vom Vorwurf des Titelmissbrauchs geben dürfen. Hätten die Gerichte und die Staatsanwaltschaft seine Kenntnisse, sein Wissen gehabt, wären die Entscheidungen anders ausgefallen. Er habe z.B. im Internet gelesen, dass Abschlüsse für Psychologie an den von Christidis angegebenen Universitäten gar nicht möglich seien. Er sei sicher, dass die Zeugnisse von Christidis nicht echt sein können. An einer gütlichen Einigung habe seine Mandantin im Übrigen kein Interesse.

Manfred Müller. Klägervertreter. Dr. Andrea Christidis. Setzt sich Denunziationen gegenüber mit Entschiedenheit zur Wehr. Foto: Heiderose Manthey.

Rechtsanwalt Manfred Müller ließ keine Gelegenheit aus, Poschner forsch nach Identität und Vertrauenswürdigkeit seiner ominösen Internet-Quellen zu fragen. Die Fragen verhallten unbeantwortet, Poschner wandte sich anderen Themen zu: Als letzten Akt in der Verhandlung wies er auf die vielen Vorwürfe hin, die im Raum standen, und beantragte die Verdoppelung des Streitwerts auf 100.000 €. (Danach richtet sich sein Honorar, unabhängig davon, welche Streitpartei dies zu tragen hat.)

Was zählt für das Gericht ?

Richterin Kassel legte den Termin zur Verkündung der Entscheidung auf den 15. Juli 2020 und erinnerte an die maßgeblichen Kriterien für eine richterliche Entscheidung: die Zuständigkeit der KMK für die Anerkennung akademischer Titel und die Zuständigkeit der Justiz für das Vorliegen schuldhaften Verhaltens; erstere hatte die Gültigkeit der akademischen Titel von Dr. Christidis festgestellt, letztere hatte sie von allen Vorwürfen freigesprochen.

Von den erschienenen Prozessbeobachtern und Journalisten war beim Verlassen des Saales zu hören, dass sie sich nicht vorstellen konnten, was am Vortrag von Poschner das Gericht überzeugt haben könnte. Poschner selbst lehnte mehrfach Gespräche und Aufzeichnungen per Foto und Film mit den Journalisten ab, sprach aber während seiner Ausführungen die Presse mehrfach Aufmerksamkeit erheischend an.

Christidis äußerte sich vorsichtig: Nachdem sie 2009 das Pamphlet von Dr. Lamertz als solches entlarvt hatte, sei es der Gefälligkeitsgutachterin sehr gut gelungen, sich aus der Affäre zu ziehen. Christidis wörtlich: „Mit Dr. Lammertz Schlammschlacht gegen mich als die „unqualifizierte“ Christidis erreichte Lamertz ohne jeglichen fachlichen Vortrag, dass das Kind, das gemäß Christidis nur zur Bereicherung eines Kinderheims seinen Eltern entzogen worden war, dennoch nicht in seine Familie zurückkehren durfte.“

Was der Rechtslage und dem Rechtsempfinden entspricht, ist nicht immer kongruent zum Ausgang der Verfahren. Warten wir die Entscheidung des Landgerichtes ab.