Das Interview: Was hat Wolfsperger motiviert Brundibar zu machen ?

WIEDERSEHEN MIT BRUNDIBAR

Interview von Torsten Hampel mit dem Regisseur Douglas Wolfsperger
mit freundlicher Genehmigung

2014-11-18

Wolfsperger in Pforzheim. Stellt seinen Film "Doppelleben" vor. Kommunales Kino 2012.

Wolfsperger in Pforzheim. Stellt seinen Film „Doppelleben“ vor. Spricht mit dem Publikum. Kommunales Kino. Christina Müh.

Herr Wolfsperger, die Kinderoper „Brundibár“, eine Auschwitz-Überlebende, Berliner Jugendliche aus problematischen Verhältnissen, Theaterproben an der Schaubühne und eine Reise in das KZ Theresienstadt sind die Koordinaten Ihres neuen Films. Um was geht es?

Es werden Dinge verhandelt, für die ich empfänglich bin. Es geht um das Dritte Reich und um junge Leute, die diese Zeit zum ersten Mal wirklich zur Kenntnis nehmen, plötzlich komplett davon gefangen genommen werden.

Ist der Film also eine Art Pädagogikseminar? Schaut her, liebe Geschichtslehrer, hier wird euch gezeigt, wie man 16-Jährige für so einen Unterrichtsstoff gewinnt?

Es wird gezeigt, wie man 16-Jährige für sich selbst gewinnt, denn irgendwann im Lauf der Dreharbeiten fingen sie an, sich zu fragen: Was wäre, wenn ich damals auf der Welt gewesen wäre? Auf welcher Seite hätte ich gestanden? Und was hieße das für mein Leben heute? Wo sortiere ich mich ein und wie gefährdet bin ich, ein Schwein zu werden? Wie schnell kann man ein Schwein werden und wie schwer ist es, keins zu sein? Für mich sind das große Fragen.

Also doch Pädagogik, nur eben für den Ethikunterricht …?

Nein, in diesem Film gibt es keine Handlungsanweisungen. Er zeigt was sich zugetragen hat und was ich spannend fand. Er zeigt eine Menschwerdung, eine kleine Etappe auf diesem Weg. Und wenn das nicht nur für das Kinopublikum, sondern auch als Schulmaterial funktionieren würde, würde mich das freuen.

Was macht Sie so empfänglich die Nazizeit?

Da kommt viel zusammen. Damals, als ich auf die Geschichte stieß, war
mein Leben geprägt von dem Streit um das Umgangsrecht mit meiner
Tochter …

… über den Sie auch einen Dokumentarfilm gemacht haben?

… genau. Ich durfte meine Tochter nicht mehr sehen. Ich stand vor
Gericht und empfand diese Ohnmacht, aber auch die Willkür und
Inkompetenz der Richter.
Da habe ich in manchen Momenten gedacht: Ja, so könnte es damals auch
gewesen sein: Argumente zählen nicht mehr, Gerechtigkeit nicht, der gesunde
Menschenverstand auch nicht. Wenn alle gegen einen sind.

Egal, ob man das nur empfindet oder ob es tatsächlich so ist?

Das ist schon ein eindrückliches Gefühl, wenn man vor Gericht sitzt und dann empfohlen bekommt, sich von seiner Tochter zu verabschieden. Sie war damals neun. Da verhindert die Mutter jahrelang den Umgang, und das Kind wird dadurch natürlich entfremdet. Die Richter erkennen das gar nicht, ob das Ignoranz ist, weiß ich nicht. Ich stelle mir da bis heute ganz viele Fragen, auf die ich keine Antwort habe. Aber das ist das, was ich erlebt habe. Dass ein Familienteil – also ich als Vater – mich von meiner Tochter verabschieden soll, also praktisch aussortiert werde. Sie wurde damals von ihrem Wohnort Düsseldorf zu mir nach Berlin geflogen und ich hatte im Wartezimmer des Verfahrenspflegers eine Dreiviertelstunde Zeit, mich von ihr zu verabschieden, also einen Brief vorzulesen und ein Abschiedsfoto zu machen.
Das sind Erfahrungen, die einfach unbeschreiblich sind und dann denkt man: So muss es damals auch gewesen sein. Familien wurden getrennt, auseinandergerissen und Menschen quasi „aussortiert“. Mir ist natürlich klar, dass dies nur vage Parallelen sind, aber gleichzeitig ist eben auch ein tiefes Gefühl. Wenn man dann in der Zeitung eine solche Geschichte von damals liest, denkt man zwangsläufig an die eigene.

Was kam noch dazu?

Dinge, die man so im Alltag mitkriegt. Die sogenannten „Dönermorde“, dieses ganze Neonazitum. Da liest man zum Beispiel eine Meldung, dass Hitler heute noch in dieser oder jener Stadt Ehrenbürger ist und man erst jetzt – 80 Jahre später – überhaupt etwas dagegen unternimmt. Ich frage mich dann immer: Wie weit reichen eigentlich noch Gesetze aus der Nazizeit in unsere Zeit hinein? Wo gibt es davon noch unerkannte, aber geduldete Spuren? Und staune darüber, wie tabu das alles immer noch ist.

Die Nazizeit ein Tabuthema? Bei all dem Erinnern hier in Deutschland, dem Ausforschen, Dokumentieren, der ja immerhin auch stattfindenden juristischen Aufarbeitung? Was ist denn Ihrer Meinung nach ein Tabuthema?

Ein Tabuthema ist etwas, von dem eine breite Öffentlichkeit nichts weiß. So wurde ja zum Beispiel lange – vielleicht bis heute – der rechte Terror unterschätzt. Er war nicht vorstellbar. Oder die Holocaust-Frage, die immer wieder auf eine bestimmte Weise diskutiert wird. Ich höre auch immer wieder von erschreckend vielen Leuten – gerade in Zusammenhang mit dem Film – dass man jetzt endlich einmal einen Schlussstrich ziehen und die Vergangenheit ruhen lassen sollte. Aber dass die Vergangenheit immer mit der Zukunft und mit der Gegenwart zusammenhängt, begreifen die anscheinend nicht. Ums Erinnern an sich ist es schlimm bestellt bei uns. Wie soll man Kinder und Jugendliche ansprechen? Der Film war auch deshalb für mich eine interessante Erfahrung, weil er zeigt, wie man es besser machen
kann.

Wann haben Sie eigentlich von Brundibár zum ersten Mal gehört?

Das war vor ungefähr zehn Jahren, am Bodensee. Dort kam eine Lehrerin auf mich zu, die mir erzählte, dass sie gerade mit ihrer Klasse die Kinderoper Brundibár inszeniert habe, die während der Nazi-Zeit im KZ Theresienstadt aufgeführt wurde. Das war für mich neu und hat mich sofort interessiert. In diesem Zusammenhang erfuhr ich auch von Greta Klingsberg, die Theresienstadt und Auschwitz überlebt hat. Das Stück wird, verbunden
mit Geschichtsunterricht, immer mal in Deutschland aufgeführt.

Wann stießen Sie auf „Die Zwiefachen“, die Jugendtheatergruppe der Berliner Schaubühne?

Ich habe jahrelang gesucht, bis ich eine ideale Theatergruppe gefunden habe. Ich habe mir diverse Vorführungen in Österreich und Ostdeutschland angeschaut und mit den Beteiligten gesprochen, aber erst bei der Schaubühnen-Regisseurin Uta Plate hat es dann klick gemacht.

Was war anders?

Bei den Inszenierungen, die ich bis dahin gesehen hatte, wurde das Stück brav nachgespielt. Die Schaubühnen-Leute haben es moderner gemacht, persönlicher. Den jungen Schauspielern sollte die Arbeit an dem Stück auch ein bisschen wehtun. Sie sollten sich die gleiche Frage stellen, die auch mich beschäftigt: Was wäre wenn?
Das war schon eine interessante Truppe, denn diese Jugendlichen leben ja alle im betreuten Wohnen aus verschiedenen Gründen: Krankheit, Drogen, Kriminalität. Die haben also schon etwas hinter sich, was ihnen eine gewisse Befähigung zur Auseinandersetzung mit großen, schweren Brocken gibt. Gleichzeitig habe ich aber auch eine gewisse Dialektik bei ihnen bemerkt. Da sie privat schon sehr viel zu kämpfen hatten und sich jetzt mit noch viel Größerem auseinandersetzen mussten, kamen ihnen ihre eigenen Probleme plötzlich klein vor.

Kann man von einer idealen Besetzung sprechen?

Kinder aus reichem Hause, hätten mich wahrscheinlich nicht so interessiert. Aber ich habe auch Gegenteiliges zu hören bekommen, wie: schlimme Kinder, schlimmes Thema, das sei zu viel.

Waren denn die Zwiefachen sofort Feuer und Flamme?

Nein, es ist ja nicht selbstverständlich, dass Jugendlichen eine Oper gefällt, die 80 Jahre alt ist. Sie hatten schon eine gewisse Abneigung. Allein beim Wort Oper sagten sie: Nee, damit hab‘ ich mich noch nie beschäftigt, das kann ich mir nicht vorstellen.
Ich war mir jedoch sicher, dass es richtig ist, den Film mit ihnen zu machen. Andererseits war mir aber auch früh klar, dass Jugendliche, die eine Kinderoper proben, nicht abendfüllend sein kann.

Wann kam Greta Klingsberg ins Spiel?

Das war ein Anruf bei ihr in Jerusalem. Ich erzählte ihr von dem Projekt und fragte sie ob sie dabei sein wolle. Sie hat sofort zugesagt, ohne mich überhaupt zu kennen. Sie sagte, sie sieht das als ihre Aufgabe. Für mich, die Jugendlichen und den Film war die Begegnung mit ihr ein großer Glücksfall und eine unglaubliche Bereicherung.

Sie sind dann mit ihr und den Zwiefachen nach Theresienstadt gefahren.
War es schwierig, Frau Klingsberg dazu zu bewegen, mitzukommen?

Nein, überhaupt nicht. Aber sie hat von Anfang an gesagt, dass eins für sie nicht in Frage kommt: Sie möchte dort nicht übernachten.

Wie haben Sie selbst Theresienstadt erlebt?

Es stehen dort viele alte, große Kasernen, wie in einer Kulisse. Ich fand das alles sehr grotesk: In den alten Kasernen wohnen heute Menschen. Es gibt das Museum am Marktplatz, die Gedenkstätte hinter der Innenstadt und den Bahnhof, wo die Züge nach Auschwitz abgingen. In dem Gebäude, in dem Greta Klingsberg damals untergebracht war, leben heute Familien. Es gibt einen Wegweiser zum Krematorium mitten in der Stadt und gleich daneben einen Laden für Armee-Klamotten, Geranien-Kästen hängen an den Fenstern.
Andererseits fand ich es aber auch beeindruckend, dass alles eins ist und nicht in Zonen – hier das Erinnern, dort das tägliche Leben – voneinander getrennt ist.

Waren die Jugendlichen vorab informiert?

Grundsätzlich schon. Sie wussten, dass wir jetzt eine Zeitzeugin treffen und sie kannten im Groben Gretas Lebensgeschichte.

Es gibt heute Zeitzeugenbörsen, Zeitzeugenberichte kommen in den Medien vor. Es gibt Steven Spielbergs Holocaust-Projekt, in dem er die Leute vor eine Kamera setzt und sie erzählen lässt. Zeitzeugen sind gefragt.

Ja. Und das Ganze ist geprägt von zwei Grundannahmen: Ein Mensch, der von sich und seinen Erlebnissen erzählt, ist für die Geschichtsvermittlung oft besser geeignet als ein Lehrbuch. Und zweitens: Diese Menschen haben ein endliches Leben, irgendwann werden sie nicht mehr da sein und dann ist es zu spät, weil man ihnen nicht mehr zuhören kann.

Ist Ihnen der Gedanke, dass die Zeit verrinnt, auch während ihrer zehnjährigen Arbeit an dem Film begegnet? Frau Klingsberg war bei den Dreharbeiten 82 Jahre alt.

Das habe ich schon verspürt. Man musste sich beeilen, man musste auch kämpfen. Wie gesagt nicht so sehr um Greta Klingsberg, aber umso mehr um die Jugendlichen, dass die einen bei ihrem Leben zuschauen lassen. In der Zeit, wo der Film entsteht, bin ich ja auch so eine Art Sammler. Ich gucke und kämpfe um Situationen. Das waren tatsächlich richtige Kämpfe herauszukriegen: Was macht ihr denn außerhalb eurer Theatergruppe? Wo
gibt es eine Möglichkeit, euch an Orten zu filmen, die mit euch zu tun haben?

Es gab Abneigung gegen zu viel Einblick?

Ja, oder die Jugendlichen hatten keine Möglichkeiten, das zuzulassen.
In den betreuten Wohnungen reden ja auch noch ein paar andere Leute mit.
Am Ende kam aber doch genug Material zusammen, eigentlich viel zu viel. Es
gibt zum Beispiel die Geschichte eines Mädchens, das während der Arbeit am
Film abgeschoben werden sollte. Sie ist eine Waise aus Vietnam. Wegen der
Residenzpflicht durfte sie Berlin nicht verlassen und nicht mit nach
Theresienstadt.

Die Zwiefachen hatten das auch in ihre „Brundibar“-Version eingearbeitet.

Es war nie klar, wie lange sie noch dabei sein würde. Es wurde aber auch thematisiert, dass Abschiebung mit Deportation nicht gleichzusetzen ist. Ich hätte das gern mit reingebracht, aber dann haben wir einfach gemerkt, dass dieser Handlungsstrang einfach zu viel wird für den Film.

Das klingt nach einer harten Entscheidung.