Unzerbrechlich ? Kinder zwischen den Fronten

ARCHE-Interview mit einer von ihrem ältesten Sohn getrennt lebenden Mutter

Keltern-Weiler. Vor mir sitzt eine 29jährige Frau, sie spricht klar und wirkt stabil. Schlank, hochgewachsen, gepflegtes und apartes Aussehen. Ihre langen blonden Haare trägt sie zu einem Pferdeschwanz streng nach hinten gekämmt, sportlich agil. Sie besucht ARCHE, weil sie sich Hilfe erhofft auf dem Weg zu ihrem 12jährigen Sohn Dominic. Dominic ist in einer Einrichtung der Jugendhilfe hinter der württembergischen Grenze in Bayern, ca. 250 Kilometer von der Mutter getrennt.  

Schreckensnachricht  vom Jugendamt: "Ihr Sohn wird nicht mehr nach Hause kommen!" - Frau Berger: „Mein Gesicht war gefroren. Der Satz hat sich tief in mein Herz gebohrt.“ Foto: Heiderose Manthey

Schreckensnachricht vom Jugendamt: „Ihr Sohn wird nicht mehr nach Hause kommen!“ – Frau Berger: „Mein Gesicht war gefroren. Der Satz hat sich tief in mein Herz gebohrt.“
Foto: Heiderose Manthey

Haben Sie Heimweh nach Dominic ?

Ich vermisse meinen Großen sehr. Ich fühle mich nicht komplett, es fehlt etwas jeden Tag. Beim gemeinsamen Essen bleibt der Platz leer. Abends saßen wir immer noch auf der Couch, einer saß links, einer saß rechts, wir haben gekuschelt, einen Film geguckt. Meine Jungs fühlten sich sehr wohl. Der Kleine ist meistens noch eingeschlafen und Dominic hat einfach nur gekuschelt. Er ist sehr verschmust, er braucht das.

Die Frau dreht den Kopf weg und hängt ihren Gedanken nach.

Warum kam Dominic weg ? 

Ich weiß es nicht. Die Frau schüttelt den Kopf. Mir wurde gesagt, ich wäre nicht in der Lage die emotionalen Nöte meiner Kinder zu erkennen wegen meiner schweren Kindheit.

Wer hat das gesagt ?

Es war die Gruppenleiterin vom Jugendamt, eine Frau D.. Am 17. April 2013 war ich morgens im Jugendamt und wollte einfach in Erfahrung bringen, was da los ist, wollte Gründe erfahren und wissen, wie es meinem Kind geht und wo er ist.

Warum war Dominic nicht mehr bei Ihnen ?

Ich habe keine Gründe genannt bekommen. Weil ich geweint habe, haben sie gesagt, es wäre besser, dass ich nicht wüsste, wo mein Sohn ist, weil man nicht abschätzen könnte, was ich tun würde.

 

Wissen Sie denn, ob die Jugendamtsmitarbeiterin auch eine schwere Kindheit hatte oder eventuell andere Beteiligte, die sich an der Wegnahme ihres Sohnes verantwortlich zeichnen ?

Nein, das weiß ich nicht.


Frau Berger: „Mein Gesicht war gefroren!“

Wie kam es zur Wegnahme von Dominic ?

"Fühle mich nicht komplett!" Mutter zweier Söhne. Einer fehlt. Ist im Heim. Das Jugendamt hat seine Hand auf ihm. Foto: Heiderose Manthey

„Fühle mich nicht komplett!“ Mutter zweier Söhne. Einer fehlt. Ist im Heim. Das Jugendamt hat seine Hand auf ihm.
Foto: Heiderose Manthey

Die Frau holt sich ihre Tasse Tee vom Tresen und trinkt.

Dominic (Name von der Redaktion geändert) war in der Schule und danach wäre er noch in einer Betreuungsgruppe der Sozialen Gruppenarbeit gewesen. Ich erwartete ihn gegen 17:30 Uhr. Um 15:30 Uhr bekam ich einen Anruf von meiner damaligen Sachbearbeiterin, einer Frau T., die mir dann am Telefon gesagt hat: „Sie wissen ja, weshalb ich Sie anrufe, Frau Berger (Name von der Redaktion geändert).“ – „Nein“, sagte ich, „aber Sie werden es mir gleich sagen.“

Dann kam der Satz, der sich tief in mein Herz einbohrte und mich zum Frosten brachte: „Ihr Sohn Dominic“ – und das hat sie genüsslich gesagt – „wird nicht mehr zu Ihnen nach Hause kommen.“

Ich war sprachlos, mein Gesicht war gefroren, völlige Leere in meinem Körper.

„Haben Sie es jetzt endlich geschafft ?“, hörte ich mich sagen.

Von dem Rest des Telefonats weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr viel. Ich begann zu weinen, habe am Telefon noch gefragt, wo mein Kind ist. Darüber habe ich natürlich keine Auskunft bekommen.


Dominic hat mehr oder weniger lustlos mit dem Auto auf seinen Knien gespielt

Wie kam es, dass Sie überhaupt an das Jugendamt geraten sind ?

Ich bin da selbst hingegangen, weil mein Sohn nach den Besuchswochenenden beim Vater sehr verschlossen war. Dominic hat sich in sein Zimmer eingeschlossen, kam nicht mehr raus, hat nicht mehr gelacht, kaum mehr gesprochen, einsilbig geantwortet. Er saß meistens vor seinem Bett und hat mehr oder weniger lustlos mit dem Auto auf seinen Knien gespielt.

Heute vermute ich, dass es zu handgreiflichen Übergriffen des Vaters dem Kind gegenüber gekommen sein muss, wobei ich nicht weiß, von wem aus dies eher ausging, ob vom Vater selbst oder von dessen Lebensgefährtin.

Einmal habe ich den Vater angezeigt, weil das Ohrläppchen von Dominic eingerissen war. Ich ging damals zur Polizei, dann in die Kinderklinik. Es wurde protokolliert, dass auch die blauen Flecken vom Besuchswochenende stammen. Das ärztliche Gutachen habe ich nicht. Dominic wurde stationär aufgenommen wegen Verdacht auf Kindesmisshandlung.

Ich weiß, dass der Vater versuchte mich schlecht zu reden bei meinem älteren Sohn. Ständig hatte ich das Gefühl, er dürfe sich nicht bei mir wohl fühlen. Das kam mir vor, wie wenn das ein innerer Auftrag gewesen wäre vom Vater an den Sohn.

Auch der Großvater väterlicherseits hat mir gegenüber ein verächtliches Verhalten gezeigt. Wenn ich Dominic an der Tür zum Besuchswochenende mit einem Kuss verabschiedete, verdrehte der Großvater schon die Augen.

Das tat mir weh, weil dieses Verhalten Dominic verunsicherte.

Die junge Frau erzählt mir diese Geschichte und sitzt gefasst neben mir.

Wie geht es dem Bruder von Dominic ?

Noel (Name von der Redaktion geändert) ist ein von Natur aus fröhliches Kind. Er lacht sehr viel und sehr gerne, bringt auch gerne andere zum Lachen. Aber es zeigt sich eben immer, dass er unter dieser Situation schrecklich zu leiden hat, weil er seinen großen Bruder vermisst und nicht verstehen kann, warum er nicht zuhause wohnen darf.
Meistens ist es abends, wenn wir diesen Moment haben, wo wir auf der Couch sitzen und uns im Arm haben, dann fängt er an zu weinen und sagt, dass er seinen Bruder vermisst und dass es noch so lange ist, bis er nächstes Mal kommt. Die beiden hängen sehr aneinander. Es gab keinen Moment, wo die beiden alleine gespielt haben. Sie haben drinnen und draußen miteinander gespielt. Draußen zogen sie gemeinsam um die Häuser. Sie kamen ausgeglichen, freudig und befriedigt zurück. Noel hat zwar Freunde, zu denen er geht, zu denen er gerne geht. Aber er macht nicht alles mit seinen Freunden. Er kommt wieder zurück mit einer wichtigen Idee, die er hat, die er sich für Dominic aufhebt.
In diesem Moment ist er stolz auf sich selbst, er freut sich über seinen brillanten Einfall und baut sich daran selbst auf.

 

Dominic: „Ich will nach Hause, ich will nach Hause!“

Dominic fehlt sein Zuhause. Die Geborgenheit fehlt ihm. Foto: Heiderose Manthey

Dominic fehlt sein Zuhause. Die Geborgenheit fehlt ihm.
Foto: Heiderose Manthey

Wie ist der Stand der Dinge jetzt ?

Ungewiss. Es gibt nichts, wo ich sagen kann, in der Zukunft passiert das oder das. Die Leiterin der Einrichtung hat mich angerufen und hat mich in einem langen Telefonat darum gebeten, beim Hilfeplangespräch sehr dafür einzustehen, dass Dominic wieder nach Hause kommt.

Wer sperrt dann ?

Das Jugendamt. Vielleicht erfahre ich Näheres am kommenden Montag.

Die Mutter wird an dieser Stelle erregter und erklärt verzweifelt und in dieser Situation hilflos: Jetzt ist Dominic am Durchdrehen, weil er nach Hause möchte. Es war schon einmal so weit, dass er durchgedreht ist. Er hat sich in der Abstellkammer eingesperrt, die Sachen rausgeschmissen und gerufen: ‚Ich will nach Hause, ich will nach Hause!‘ Daraufhin hat die Einrichtung die Polizei verständigt, weil sie ihn nicht mehr unter Kontrolle bekommen konnte – so wurde mir erzählt – und die Polizei hat Dominic gesagt, wenn sie nochmal kommen müsste, dann würde er in die Geschlossene kommen (gemeint ist an dieser Stelle die geschlossene Psychiatrie für Kinder).

Die Leiterin rief mich nach diesem Vorfall an, dass sie Dominic jetzt einem Psychiater vorstellen würde, damit er mit Medikamenten ruhig gestellt werden könne.

Ich sagte: „Nein, das wird nicht passieren!“

Ich habe ja das Sorgerecht und damit auch die Gesundheitsfürsorge. Was allerdings wirklich passiert, darüber habe ich von hier keinen Überblick. Mein Kind ist 250 (!) Kilometer von mir weg.


Mitschüler hänseln Dominik und schreien: „Heimkind!“ – „Deine Mutter ist fett.“

Dominic ist jetzt auch schon mehrfach in der dortigen Schule ausgerastet. Er wird dort gemobbt. Er wird ‚Heimkind‘ gerufen. Die Kinder beleidigen seine Familie, rufen „Deine Mutter ist fett.“ Da schreit Dominic. Neulich war’s erst so, dass er seine Sachen zerrissen hat, mit der Faust gegen das Fenster geschlagen hat und dann soll er eine Mitschülerin auf eine Bank gedrückt haben. Dominic hat aber felsenfest behauptet, dass es so nicht war. Er habe sie nicht angefasst. Alles andere, was nach der Provokation durch die Mitschüler entstand, also dass er seine Sachen zerrissen hat und gegen das Fenster mit der Faust geschlagen hat, das gibt er ohne Probleme damit  zu haben zu.

Das zu tun oder tun zu müssen, das sind ganz schreckliche Hilfeschreie von ihm.

Mittlerweile sagt die Schule Dominic wäre nicht mehr tragbar für sie, sie seien auch nicht verpflichtet, Dominic zu behalten, weil er ja in einem anderen Bundesland (Bayern) wohnt und in Baden-Württemberg zur Schule geht.

Und es spitzte sich so zu, dass Dominic nur noch mit einem Schulbegleiter zur Schule durfte. Er wurde sogar von der Schule ausgeschlossen. Wann er wieder komplett den Schulbetrieb aufnehmen kann mit diesem Schulbegleiter, ist unbekannt. Es hinge vom Jugendamt ab, hieß es.

Seit kurzem darf er nun die ersten zwei Schulstunden wieder besuchen – ohne Schulbegleiter.

.

Der Ort, von dem er sagen kann: „Hier bin ich zuhause!“

Was fehlt Dominic ?

Sein Zuhause. Ihm fehlt die Geborgenheit, die er dort nicht kriegt. Dominic braucht so viel körperliche Nähe, die er dort nicht kriegt. Dominic fehlt der Ort, von dem er sagen kann, hier bin ich zuhause. Er wurde ständig rumgeschickt, zu der Hilfe, zu der Hilfe, zu der Hilfe. Er hat keinen Rückhalt.

Keine Liebe. Das ist doch klar, dass der durchdreht, weil er dorthin will, wo er hin muss – nach Hause.

Wenn er zuhause ist, hängt der total an mir. Er hängt mir ständig am Bein und so. Er holt sich das, was ihm fehlt, was er braucht, was er vermisst, und zwar ganz extrem, wenn er zuhause ist.

Dominic war immer zuhause, weil die Leiterin der Einrichtung gesagt hat, Dominic ist kein Kind, das hierher gehört. Er musste immer wieder zurück, ist sogar mit dem Zug gefahren, weil das Jugendamt die Hand auf meinem Kind hält und wenn ich dagegen handeln würde, würde ich höchstwahrscheinlich mein Kind nicht mehr sehen. Davor habe ich Angst. Und ich habe auch Angst, dass sie noch auf die Idee kommen mir Noel wegzunehmen.

 

Darauf wartet Dominic, dass ich ihm zurufe: „Komm, bleib hier !“

Die Abschiede, wenn Dominic gehen muss, die sind ganz schrecklich. Wenn wir am Bahnhof stehen, ist er wieder völlig ruhig, redet nichts mehr und sobald dann die Durchsage kommt, dass der Zug einfährt, klammert er sich an mir fest und fängt an zu weinen. Noel versucht dann stark zu sein, nimmt uns beide in den Arm und weint nicht. Keiner redet.

Wenn dann der Zug eingefahren ist und Dominic einsteigen muss, dann ist es so, dass ich Dominic richtig reinschieben muss. Er weint, steht an der Tür und mir zerbricht es jedesmal das Herz. Sein Gesicht schaut mich mit sehr traurigen Augen an. Wie wenn er hoffen würde, dass ich die Tür aufmachen würde und ihm zurufen würde: „Komm, bleib hier !“

Wenn der Zug losgefahren ist, fängt Noel an zu weinen.

*

Kommenden Montag wird die Mutter von ARCHE nach Bayern begleitet. Sie ist zu einem Hilfe-Plan-Gespräch eingeladen.

Was erhoffen Sie sich ?

Ich erhoffe mir, dass Dominic wieder nach Hause kommen wird, weil die Einrichtung und die Familientherapeutin in diese Richtung gelenkt hat, dass es sehr gut aussieht. Seit der Termin aber näher rückt, rudern sie wieder zurück.

Mittlerweile sagt der Bezugsbetreuer von Dominic sogar, dass ICH Dominic sagen solle, dass es gut ist, da, wo er jetzt ist.

 

 

Deutschland schafft Kindesmisshandlung

Bei ihrer Recherche erreicht die Reporterin ein merkwürdiger Anruf
Jugendamt Leipzig – Die Verbrecher sind unter uns

Warum in Deutschland Eltern-Kind-Entfremdung funktioniert

Justizopfer formieren sich Kämpfen einen Großteil ihres Lebens gegen schreiendes Unrecht

 

TV-ORANGE