Zugriff zur Droge ‚Verwöhnungsfalle‘ besonders an Weihnachten akut
2014-12-15
Interview mit Dr. Albert Wunsch
Neuss. Soll man Kindern Luxusgeschenke unter den Weihnachtsbaum legen ? Auf keinen Fall, sagt der Erziehungswissenschaftler Albert Wunsch.
Düsseldorf. Die Parkhäuser sind voll. Menschen drängen sich in die bunten Einkaufsstraßen der Innenstädte, strömen in die Kaufhäuser und verlassen diese voll bepackt, Tüten über Tüten mit materiellen Gegenständen, die dann fein verpackt unter den Tannenbaum gelegt werden sollen.
Schnell ist da das Weihnachtsgeld verbraucht. Laut Hochschule für Ökonomie (FOM) sollen 447 Euro pro Person für Geschenke ausgegeben werden.
Was hält der Erziehungswissenschafter Dr. Albert Wunsch von solchen Dimensionen ?
Herr Wunsch, ist es angebracht einem Kind Geschenke im Wert von mehreren hundert Euro an Weihnachten zu offerieren ?
Da es noch kein Gesetz gibt, welches solch teure Geschenke verbietet, sollte der – hoffentlich reichlich vorhandene – elterliche Menschenverstand hier ein klares Stopp verdeutlichen. Denn solche Geschenke würden beim Kind eine Selbstverständlichkeit grundlegen, welche nicht nur in der Regel weder Dank noch Wertschätzung auslöst, sondern auch nicht auf die Realitäten des Lebens vorbereitet. Wer dennoch als Eltern solch teure Geschenke in Erwägung zieht, sollte sich fragen, was er/sie damit einem Kind an Erwartungen aufbürdet. Falls ein Kind per Wunschzettel die Eltern zu solchen Überlegungen führte, sollte dem Kind der Unterschied zwischen einem Bestell- und einem Wunsch-Zettel verdeutlicht werden.
Viele Eltern schweben offenbar in der Kluft, ihren Kindern einen Herzenswunsch erfüllen zu wollen, sie gleichzeitig aber vor bestimmten Einflüssen schützen zu müssen . . .
Dann ist es sinnvoller, die eigene – sicherlich gut begründete – Einschätzung nicht leichtfertig aufzugeben. Denn das, was oft als Herzenswunsch geäußert wird, entspricht meist dem Gedanken des Mithalten-Wollens. Denn die Wünsche von Kindern orientieren sich meist an dem, was zur Zeit in der Clique in ist. Dies kann aber übermorgen schon anders sein und ist keinesfalls ein Gütekriterium.
Welchen (finanziellen) Wert sollte denn ein Geschenk haben?
Geschenke aller Art sollten in erster Linie Freude bereiten. Und das Schenken am Weihnachtsfest entspringt der Freude über die Geburt Christi vor ca. 2000 Jahren. Wer dies – aus welchen Gründen auch immer – ausblendet, sollte konsequenterweise für eine möglicherweise geplante Konsum-Orgie ein anderes Datum nutzen. Da heute viele Menschen mehr Geld als Zeit zu haben scheinen, wird die Höhe des Geschenke-Berges oft zum Ausdruck nicht eingebrachter Beziehungszeit. Wenn es dennoch um die finanzielle Höhe gehen sollte, dürften Geschenke zwischen 30 und 90 Euro – je nach Einkommensverhältnissen – ein Richt-Maß sein.
Wie erkläre ich einem Kind denn in einer Überflussgesellschaft, dass bestimmte Geschenke maßlos sind? Mit dem Satz, da muss der Papa eine Woche für arbeiten?
Wenn Kinder bisher glaubten, das Geld kommt aus dem Bankautomat, werden diese auch zur Weihnachtzeit kaum auf die richtige Spur zu bringen sein. Geld, dies sollten Kinder von früh auf im alltäglichen Geschehen erfahren, ist in der Regel das Produkt von erbrachter Leistung und sollte demnach sorgsam eingesetzt werden. Je mehr also Kinder teure Geschenke von den Eltern wollen, je umfangreicher fehlen sie ihnen als Vater und Mutter.
Oder müssen Eltern einfach wieder lernen, ihren Kindern Nein zu sagen?
Ja, viele Eltern tun sich schwer, ihren Kindern Nein zu sagen. Oft, weil es ihnen an Klarheit bzw. Ich-Stärke fehlt. Nicht selten auch aufgrund eines permanent schlechten Gewissens wegen einer zu geringen Beziehungszeit. Aber eine einfache Variante zum Nein-Sagen wäre, – sinnvolle Geschenke vorausgesetzt – ein klares Ja mit dem Zusatz, dass das Geschenk wegen fehlenden Geldes dann halt auf mehrere Feste verteilt werden müsste. Wichtig: Das Geschenk kommt erst, wenn das letzte eingeplante Fest erreicht ist.
Was geschieht mit Kindern, die kein Nein mehr erfahren?
Dies sind zu bedauernde Kinder. Denn wer keine Begrenzung von Wünschen erfährt, meint, das Leben sei eine riesige Wunder-Tüte: ‚Reingreifen und genießen’. Ob in der Berufsausbildung oder im Erwerbsleben, jede Nicht-möglich-Situation, jedes Stoppen eigener Bedürfnisse oder Vorstellungen wird rasante Konflikte auslösen. Aber die restliche Gesellschaft wird auch betroffen sein, weil sich typische Haben-Wollen-Konsum-Kinder in Mangelsituationen, wenn die Wundertüte verschlossen ist, dann die als selbstverständlich betrachteten Dinge per Abzocken, Raub und Diebstahl beschaffen werden.
Mal weg von dem materiellen Wert: Ein Smartphone als Geschenk spricht nicht gerade für eine tiefgründige pädagogische Auseinandersetzung mit dem Kind, oder?
Auf keinen Fall. Verantwortungsbewusste Eltern schenken in der Regel Kindern gar kein Smartphone, weil zu viele schwer eindämmbare Gefahren damit verbunden und die Geräte auch viele zu teuer sind. Die wenigen, vielleicht notwendigen Kommunikationsvorgänge, wenn der Bus am Abend weg oder das Fahrrad auf dem Nachhauseweg platt ist, sind leicht mit einem einfachen Mobil-Telefon zu realisieren. Gut passende Geschenke lassen sich halt nicht zwischen Tür und Angel kaufen, sondern benötigen eine durch Hinhorchen und Achtsamkeit geprägte Vorlaufzeit.
Gibt es denn „gute“ oder „schlechte“ Geschenke? Ist ein Fahrrad nicht „wertvoller“ als ein Mobiltelefon?
Es gibt reichlich gute Geschenke, die auch Geld kosten. Ein Fahrrad, alles was Bewegung, Knobeln, Denken oder Basteln auslöst, Gesellschaftsspiele usw. Aber es gibt auch viele gute Beziehungszeit-Geschenke, welche nicht ohne Finanzen zu realisieren sind.
Zum Beispiel?
Eltern, Großeltern oder Paten können Tagesausflüge in Gegenden oder zu Orten schenken, welche vom Kind als attraktiv betrachtet werden. Ob dies eine Riesenrutsche in X ist, Dampfeisenbahnfahrten, ein Technik-Museum mit Mitmachaktionen für Kinder, Mountainbike-Training in der Kiesgrube, Reitstunden oder Fahrerprobung auf dem Auto-Übungsgelände sind. Das setzt jedoch voraus, etwas vom Leben und den Interessen der Kinder mitzubekommen.
Sagen wir mal, Sie hätten 200 Euro zur Verfügung, um einem Kind (zehn bis zwölf Jahre) zu Weihnachten etwas zu schenken. Was würden Sie wählen?
Wenn ich 200 Euro für ein Kind hätte, würden von mir noch zwei bis vier andere Kinder in ärmlichen Verhältnissen, hier bei uns oder in anderen Gebieten, mit beschenkt. Vielleicht würde ich auch mit dem Kind einige Geschenke für Kinder in einem Flüchtlingsheim kaufen und diese dann mit dem Kind an Weihnachten an die unbekannten Kinder geben. Was ich ohne Kenntnis eines bestimmten Kindes kaufen würde, wären Gesellschafts- bzw. Aktivspiele, ein ansprechendes Buch und etwas zum Musik-Machen. Ergänzend würde ich eines der oben beschriebenen Zuwendungs-Zeit-Geschenke, interessant und schön verpackt überreichen. Und weil Süßes meist an Weihnachten auch nicht fehlen sollte: Nüsse, Weihnachtsgebäck und Trockenfrüchte kämen dazu auf den Weihnachtsteller.
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Originaltext wz newsline Westdeutsche Zeitung